Tundra |
Datum: ??? Ein Märchen aus Lappland |
Jeden Sonntag zu der Stunde, da die Sonne sich der Tundra zuneigt, ging die kleine Naska den Weg zur Quelle, um Wasser zu holen für den Sonntag. "Auf der anderen Seite der Quelle", hatte ihr Vater gesagt, "liegt ein großes gefährliches Land. Du darfst niemals über die letzten Birken hinausgehen, die am Rande der Tundra stehen." Eines Abends sah sie eine schöne junge Frau an der Quelle sitzen. "Was macht Ihr hier?" rief das kleine Mädchen erschrocken. "Ihr seid sicher aus dem Land gekommen, das mein Vater mir verboten hat." Die Junge Frau lächelte und zeigte dabei ihre Zähne, die wie Gold glänzten. "Jenes Land ist nur für deinen Vater gefährlich, für dich nicht", sagte sie. "Es gibt viele junge, schöne Frauen dort, und deine Mutter hat schon weiße Haare." Naska wollte fortlaufen, aber die Fremde packte sie am Arm und zog sie zu sich heran. "Was für hübsche Beine du hast, kleines Mädchen! Man könnte meinen, sie seien aus durchsichtigem Granit, so deutlich sieht man die Adern." Sie griff nach Naskas linkem Bein, hielt es am Knöchel fest und begann es langsam, langsam immer in derselben Richtung zu drehen. Das Mädchen rief um Hilfe, aber ihre Eltern wohnten weit entfernt und konnten sie nicht hören. Die junge Frau drehte immer weiter und blickte aufmerksam in Naskas Gesicht, das sich vor Schmerzen verzog. Plötzlich sprangen aus Naskas Nase zwei kleine Bäche klaren Blutes. Sogleich ließ die Frau das Bein fahren, legte ihre Hände so zusammen, daß sie eine Schale bildeten, und fing das Blut auf, das unablässig floß. Gierig trank sie es, ging dann, ohne sich um das weinende Mädchen zu kümmern, davon und war rasch in der Tundra verschwunden. Immer noch blutend, hinkte Naska nach Hause und erzählte alles ihren Eltern. Der Vater wurde bleich wie ein Toter, während die Mutter schwur,sie werde nie wieder erlauben, daß ihr einziges Kind in die Tundra ginge. Am folgenden Tag klopfte es an der Tür. Naska schrie laut auf, als sie die Fremde aus der Tundra erkannte. "Ich habe dir befohlen, mich in Ruhe zu lassen", brüllte der Vater, und jetzt wagst du es, mich bis zu meinem Haus zu verfolgen!" Er schwieg. Plötzlich fühlte er sich unwiderstehlich hingezogen zu diese Frau, die für ihn keine Fremde mehr war. Er spürte eine Verwandtschaft des Blutes und vergaß, daß es das Blut seines eigenen Kindes war, daß sie am Tage vorher getrunken hatte. Damals war es den Männern nicht verboten, mehrere Frauen zu haben. So machte er sie zu seiner Frau, und sie lebten wohl oder übel alle zusammen unter demselben Dach. Aber eines schönen Tages wurde die junge Frau krank. Nichts schien ihr helfen zu können. Da rief sie ihren Mann und sagte: "Willst du, daß ich am Leben bleibe? Es gibt nur noch ein einziges Mittel, das mich retten kann." "Sag mir schnell, was es ist", sagte der Mann. "Ich würde meine Seele dem Teufel verkaufen, wenn ich dich dafür bei mir behalten dürfte." "Nimm dieses Pulver", sagte sie mit sterbender Stimme, "löse es in Wasser auf und gib es der anderen zu trinken. Dann stelle den größten Kochtopf bereit. Sobald die Alte tot ist, sollst du sie kochen. Einzig und allein ihr Fleisch kann mich retten." Entsetzt weigerte sich der Mann. "Dann willst du also lieber mich sterben sehen, mich, die Junge und Schöne, und diese zahnlose Alte, deren Haare von Tag zu Tag bleicher werden, willst du behalten?" Schnell rief die erste Frau, die das Ganze gehört hatte, ihre Tochter und sagte: "Sie wollen mich töten und mich wie einen Fisch in siedendem Wasser kochen. Mehrere Tage lang wird diese Teufelin mich in kleinen Stücken verschlingen. Du sollst alle meine Knochen sorgfältig sammeln bis zum letzten, sollst dann weit gehen bis zu dem fernen Fluß und sie im Kreis am Ufer nieder legen." Als das Verbrechen geschehen und die junge Frau wieder gesund geworden war, nachdem sie auch das letzte Stück Fleisch verschlungen hatte, legte Naska alle Knochen, die sie sorgfältig gesammelt hatte, in ihre Schürze, ging zum Fluß und legte sie im Kreis in den Ufersand. Da begann an diese Stelle eine kleine Hütte zu wachsen. Naska trat durch die Tür hinein, die weit offenstand, als ob sie sie einladen wolle. Überrascht erblickte sie ein Zimmer, das vor Sauberkeit und Licht glitzerte. Als sie zum Fenster trat und die Augen hob, sah sie einen jungen Mann, der durch die Luft flog und zu ihr niederstieg. Er kam in die Hütte zur selben Zeit wie ein blendenderSonnenstrahl. Er hatte die Flügel eines Engels und ein Antlitz, das vor Schönheit leuchtete. Er war ganz gebeugt unter der Last von Geschenken, die er auf den Tisch legte. Dann sagte er : "Ich bin der Sohn der Sonne. Ich bin durch den ganzen Himmel
geflogen von einem Ende bis zum anderen, um dich zu besuchen
und mit dir zu spielen." Sie verbrachten einen herrlichen Tag miteinander und dann einen zweiten und dann eine ganze Woche und wurden große Freunde. Jeden Abend stieg der junge Mann mit den letzen Strahlen wieder zur Sonne auf und kam am folgenden Tag mit der ersten Morgenröte zurück. Es war für Naska ein großer Kummer, als der junge Mann eines Tages sagte: "Ich bin zur Erde herabgestiegen, um mir eine Braut zu suchen. Willst du mich heute Abend begleiten?" Naska blickte ihn traurig an und sagte: "Dein Anerbieten ehrt mich mehr als Worte ausdrücken können. Du vergißt aber, daß ich nur ein einfaches Mädchen der Erde bin. Selbst aus der Ferne blendet mich die Sonne, und ich kann ihr nicht einmal ins Gesicht sehen. Wie, meinst du, könnte ich dort oben mit dir leben?" Der junge Mann runzelte die Augenbrauen, und seine Stimme wurde hart und schneidend wie Stahl, denn dies Weigerung hatte ihn mitten ins Herz getroffen. "Wenn du mich wirklich liebtest, hättest du Vertrauen gehabt, und die Antwort, die ich eben gehört habe, wäre niemals über deine Lippen gekommen." Kaum hatte er das gesagt, als er seine großen Flügel entfaltete und sich langsam in die Lüfte erhob. Er hörte nicht den leisen Ruf des kleinen Mädchens, das ihn anflehte, wiederzukommen und noch ein wenig Geduld zu haben. Am folgenden Morgen mochte sie noch so oft die Blicke zum Himmel erheben: große schwarze Wolken verdeckten die Sonne, und nur einige Vögel mit dunklem Gefieder schwebten in der Luft und stießen schmerzliche Schreie aus. Da begriff sie; daß er nicht wiederkommen würde. Das Haus schien ihr traurig und leer, und sie ging noch am selben Tage fort. Tage und Wochen irrte sie am Fluß entlang, pflückte wilde Beeren, um ihren Hunger zu stillen, schlief auf dem Moos und im Ufersand. Die Sonne erschien nicht mehr. Das Land, durch das sie kam, wurde immer düsterer, und immer schmerzlicher klangen die Schreie der Vögel über ihrem Kopf. Die Beeren, die sie pflückte, hatten einen bitteren Geschmack, und ihr Saft war schwärzer als Tinte. Eine seltsame Betäubung drang in ihre Glieder und legte sich auf ihr Herz, das allmählich den strahlenden Jüngling zu vergessen begann, der von der Sonne herabgestiegen war, um sich auf der Erde eine Braut zu suchen. So kam sie zu einer Hütte. Die Bäume, die sie umgaben, zerfielen in Staub, sobald man sie berührte. Naska trat in die Hütte und sah voller Entsetzen, daß der Fußboden mit Blut bedeckt war. Sie brauchte die ganz Nacht, um es wegzuwaschen. Gegen Morgen bekam sie Hunger und aß ein Stück von dem großen Brot, das auf dem Tisch lag. Sogleich verwandelte sie sich in ein kleines Stück Holz. Da kam mit der Morgenröte ein junger, schwarzgekleideter Mann herein. Er sah, daß der Fußboden rein gewaschen und von dem Brot gegessen worden war. Er setzte sich mit gespreitzten Beinen auf den Boden, schwang eine Axt und hieb mit gewaltigen Schlägen auf seine Beine ein. Das Blut spritze an den Wänden hoch. Plötzlich erblickte er das Stück Holz in einer Ecke des Raumes. Er packte es und schrie: "Wer bist du? Wer hat es gewagt, in dieses Haus einzudringen und von meinem Brote zu essen? Los! Sag mir, wer du bist!" Da lief eine Ratte durch das Zimmer, dann zog sich eine Schlange durch das Blut, das den Boden bedeckte, und dann kamen andere Tiere, alle immer widerlicher als die vorigen. Der Jüngling lachte und rief: "Wenn du wirklich eines dieser Ungeheuer wärest, die du vor meinen Augen vorbeiziehen läßt, so würdest du dich als erstes in der Gestalt eines wunderbaren Mädchens zeigen." Da erschien Naska, wie sie in Wirklichkeit war, und der junge Mann verliebte sich in sie. "Willst du meine Frau werden?" fragte er. Naska war es müde, allein durch die weite Welt zu wandern und wilde Beeren zu essen, deshalb willigte sie ein. Da sagte der junge Mann: "Du darfst nur nicht hier wohnen. Geh zum Ufer und rufe nach meiner Mutter, die auf der anderen Seite des Flusses wohnt. Bitte sie, dich in einem Boot herüberzuholen, und wenn sie das ablehnt, sage ihr, daß ich es bin, der dich zu ihr schickt. Wenn du sie kennengelernt hast, frage sie, ob wir beide die Nächte unter ihrem Dach verbringen können. Ist sie einverstanden so komme zu meinem Ufer zurück, aber verlasse das Boot nicht und setzte niemals mehr die Füße auf diese Erde. Ich werde dich bei Sonnenuntergang vor dem Fluß erwarten." Naska gehorchte, ging zum Ufer und begann über den Fluß zu rufen. Eine alte Frau erschien auf der anderen Seite, hob die Arme zum Himmel und rief: "Wer hat das Herz, mir den Namen meines Sohnes zuzurufen, den ich gerade verloren habe?" Die Mutter war froh, von ihrem Sohn zu hören. Er war an den Folgen eines Axthiebes gestorben, mit dem er versehentlich das Bein getroffen hatte. Sie erlaubte, daß die beiden unter ihrem Dach lebten. Wenn die Sonne, die nur auf einer Seite des Flusses schien, am Horizont verschwand, machte sich Naska auf, um ihren Mann zu holen, der sie am anderen Ufer erwartete. Nachdem sie die Nacht im Hause der Mutter verbracht hatten, fuhr sie ihn ganz früh am Tage, noch bevor die Morgenröte am Himmel erschien, zu seinem Ufer und kehrte selber zurück, um auf den Abend zu warten. Sie wußte, daß ihr Mann sterben würde und diesmal für immer , wenn ein Sonnenstrahl auf ihn fiel. Sie liebte ihn, ihren traurigen nächtlichen Gefährten, und hatte Erbarmen mit ihm. Und er begriff wohl, wie hart und unnatürlich das Leben war, das er seiner Frau auferlegte. Eines Abends, als sie Seite an Seite im Bett lagen, sagte er: "Du hast dein Leben an einen Mann gebunden, den du dir
im Reich der Schatten gesucht hast, an einen Mann, der
im Grunde schon tot ist und der nur darauf wartet, daß
der letzte dünne Faden, der ihn noch an die Lebenden
bindet, zerreißt." Und sie, die Furcht gehabt hatte, sich dem Sohn der Sonne, dem Prinzen des Lichts, anzuvertrauen, antwortete jetzt dem unglücklichen Sohn der Schatten und des Todes: "Ich habe niemanden auf der Welt als dich. Mein Vater ist ein Ungeheuer. Wenn du dieses Ufer für immer verläßt, nimm mich mit dir. Was kümmert es mich wohin wir beide gehen, wenn ich nur nicht allein bleibe." Aber er liebte seine Frau, und seine Liebe war zärtlich und tief. Er legte ihr die Hand auf die Stirn und dann auf die Augen. "Ich gebe dir nur diese schweren Schatten. Du bist jung. Kein Unfall hat dir das Leben geraubt. Mein Jahrhundert ist abgelaufen, deines hat kaum begonnen. Erlaube mir, dorthin zurückzukehren, woher ich kam, und auch während der Nächte dort zu bleiben." Aber davon wollte sie nichts wissen. Im Winter verbrachten sie viele Stunden zusammen. Dann kam der Frühling. Kaum waren sie eingeschlafen, mußten sie eilig schon wieder aufstehen. Die Sonne war die ganze Zeit da und drohte, bald überhaupt nicht mehr unterzugehen. Er sah das blasse Gesicht seiner Frau und machte sich bittere Vorwürfe. Sie mochte sich noch soviel Mühe geben, ihre Müdigkeit und Erschöpfung vor ihm zu verbergen und ihn zu beruhigen, er sah wohl, daß sie immer schwächer wurde. Eines Morgens geschah das Unglück. Vielleicht hatte er es selber herbeigeführt, aus Liebe zu seiner Frau. Sie erwachten beide in dem Augenblick, als die Sonne schon die Köpfe der Bäume streifte. Sie stürzten zum Boot, aber ein Sonnenstrahl traf den jungen Mann in den Nacken, und er fiel wie vom Blitz geschlagen zu Boden. Diesmal war er tot, unwiderruflich tot, endlich befreit von der quälenden Sehnsucht nach der Erde und der furchtbaren Zwischenwelt, wo er wie ein ruheloser Geist lebte und umherirrte. Aber seine Frau, gebeugt über sein Gesicht, das zum erstenmal ein friedliches Lächeln zeigte, war wieder ganz allein. Weiterwandern, sich von wilden Beeren nähren oder versuchen, ihr Brot in fremden Ländern zu verdienen? Dazu hatte sie weder die Kraft noch den Mut. Hierbleiben, bei der alten Mutter ihres Mannes das Haus war zu voll von Erinnerungen. Auf einmal hob sie den Kopf und stieß einen langen Ruf aus. Und er kam wie ein leuchtender Vogel. Sanft ließ er sich auf der Erde nieder, breitete seine Flügel weit aus, drückte Naska an seine Brust und flog mit ihr zur Sonne. |